Anwaltskanzlei Alexis Brudermann

Kanzlei für Deutsch-Italienisches Recht und IT-Recht

Geblitzt?


In die Blitzer-Verfahren kommt jetzt Bewegung

In Bußgeldverfahren vor den Amtsgerichten wird immer wieder über die Frage gestritten, ob der Rechtsanwalt für seinen Mandanten Einsicht in die sog. Rohmessdaten nehmen kann.

Aktuell wurde ein interessanter Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vorgelegt, der sich jetzt mit der Frage auseinandergesetzt [BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 12. November 2020 - 2 BvR 1616/18 - Rn. (1 - 72)].

 Nachzulesen unter:

 http://www.bverfg.de/e/rk20201112_2bvr161618.html

Als Verteidiger lasse ich mir in Bußgeldsachen immer zuerst die Akte kommen, in der meist die sogenannten Rohmessdaten nicht enthalten sind. Um die Messung von der technischen Seite prüfen zu können, sind diese Rohmessdaten jedoch erforderlich. Die Gerichte erklären dann, bei einer Geschwindigkeitsmessung mit dem zum Einsatz gekommenen Messgerät handele es sich um ein sogenanntes „standardisiertes Messverfahren“. Das Gerät sei geeicht und durch geschultes Personal entsprechend den Vorgaben der Bedienungsanleitung des Herstellers eingesetzt. Die Richtigkeit des gemessenen Geschwindigkeitswerts sei damit indiziert. Konkrete Anhaltspunkte, die geeignet wären, Zweifel an der Funktionstüchtigkeit oder der sachgerechten Handhabung des Messgeräts und daher an der Richtigkeit des Messergebnisses zu begründen, seien nicht entstanden und vom Rechtsanwalt nicht vorgetragen.

Kein Wunder. Denn das ist dem Rechtsanwalt so gar nicht möglich. Kann er die Rohmessdaten nicht prüfen, kann er natürlich auch nicht beurteilen, ob daran was faul ist. Daher kann er zwar Einwände erheben, die die grundsätzliche Eignung des eingesetzten Messsystems betreffen, mangels Informationen im Detail nicht aber die Messung im Einzelfall. Die Amtsrichter bügeln daher die entsprechenden Beweisanträge immer wieder ab. Mit der Begründung: Das Gerät war geeicht und der Messbeamte geschult. Klar für den Richter, dass das Ergebnis dann richtig sein muss! Ob trotzdem ggf. eine Fehlmessung vorlag, kann aber nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden.

Selbst wenn Messgeräte grundsätzlich korrekt funktionieren, lässt sich auch bei der besten Technik nicht ausschließen, dass doch manchmal Fehler auftreten. Davon wollen die meisten Richter nichts hören. Für sie ist der Fall klar, der Betroffene ist zu schnell gefahren und jetzt muss er zahlen bzw. zu Fuß gehen, wenn ein Fahrverbot im Raum steht. Ja, da bin ich soweit noch d’accord. Wenn es wirklich so ist. Aber das muss man zuerst mal prüfen. Wenn mein Mandant meint, die Messung könne nicht richtig sein, hat er im Rechtsstaat sein verbrieftes Recht, dies zu hinterfragen. Und selbst wenn eine Fehlmessung nur einmal von tausend vorkommt. Da müssen wir durch. 

Ich selbst vertrete als Rechtsanwalt sehr viele Mandanten in Bußgeldangelegenheiten u. a. wegen zu schnellen Fahrens. In der Gemarkung Speyer befindet sich die berühmt-berüchtigte Stelle auf der Autobahn A 61 am Kreuz Speyer. Dies ist insbesondere für Durchgangsreisende ein Problem. Die A 61 von Köln / Koblenz kommend ist durchgehend auf Tempo 130 km/h beschränkt. An der Raststätte Dannstadt wird die Begrenzung dann plötzlich aufgehoben. Viele Autofahrer geben dann wieder etwas mehr Gas. Kaum 10 Kilometer weiter kurz vor Speyer wird dann wieder begrenzt auf 130 km/h und dann auf 100 km/h. Grund für das Tempolimit Höhe Speyer ist Lärmschutz. Für den Auswärtigen ergibt sich dies in Anbetracht der gut ausgebauten zweispurigen, geradeaus verlaufenden Strecke nicht wirklich. Eine zusätzliche Beschilderung, die auf den Lärmschutz hinweist, ist leider nicht vorhanden. Nicht jeder geht dann voll in die Eisen. Nur allzu oft wird die 100er Beschilderung übersehen. Das weiß die Bußgeldbehörde und legt sich mit ihrem Trailer in die Büsche. Drin steckt ein Vitronic Poliscan FM1 Blitzer. In Messzeiträumen von 2 bis 3 Tagen werden zuweilen 7.000 (in Worten siebentausend) und mehr Verstöße registriert. Sie können sich vorstellen, was da an Bußgeldern zusammenkommt. 

Aus dem Recht auf ein faires Verfahren erwächst ein über das Recht auf Akteneinsicht hinausgehender Anspruch des Betroffenen auf Einsichtnahme in die Messunterlagen und Messdaten, auch wenn diese nicht Bestandteil der Bußgeldakte sein sollten. Dieser Anspruch besteht unabhängig von der Frage, ob konkrete Anhaltspunkte für Messfehler vorliegen oder vorgetragen sind. Durch die Vorenthaltung der begehrten Informationen wird außerdem gegen das Recht auf effektive Verteidigung und den Anspruch auf rechtliches Gehör verstoßen. 

Wie gesagt, handelt es sich bei der Wirkungsweise des Poliscan um ein standardisiertes Messverfahren, so dass der Betroffene zur Verteidigung konkrete Einwendungen gegen die Messung vorbringen muss. Hierzu ist er allerdings nur in der Lage, soweit eine Auswertung der Messung – gegebenenfalls durch einen von ihm beauftragten Sachverständigen – erfolgen kann. Wenn es der Verteidigung obliegt, konkrete Einwände gegen die Messung und das Messergebnis zu erheben, muss ihr auch die Überprüfung der Messung ermöglicht werden. Wie umfassend diese Überprüfung dann seitens der Verteidigung erfolgt, ist nicht durch das Gericht und die Bußgeldbehörde, sondern durch die Verteidigung selbst zu entscheiden. 

Das Bundesverfassungsgericht hat daher jetzt entschieden, dass es um „Informationsparität“ im Verhältnis zur Verwaltungsbehörde und nicht um „Waffengleichheit“ mit dem Gericht geht. Hierbei handelt es sich nämlich nicht um Beweis(ermittlungs)anträge. Vielmehr kommt es auf den Informationszugang an, also durch die eigenständige Überprüfung der begehrten Informationen, Anhaltspunkte für die Fehlerhaftigkeit des Messergebnisses erst zu ermitteln, um diese dann ggf. vor Gericht darlegen und dessen Amtsaufklärungspflicht auslösen zu können. 

Die Bußgeldverfahren bieten mit dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts neue Möglichkeiten der Verteidigung in Bußgeldsachen wegen zu schnellen Fahrens. Jedenfalls können die Verfahren nicht mehr so ohne weiteres abgebügelt werden mit dem Hinweis des Gerichts: Die Messung wird schon irgendwie richtig gewesen sein! 

Wenn die Rohmessdaten rausgerückt werden, hat der Betroffene zusammen mit seinem Verteidiger die Möglichkeit, die konkrete Messung auf technische Fehler hin zu überprüfen. Ob sich dann tatsächlich Anhaltspunkte ergeben, die Messung von der technischen Seite her anzugreifen, steht auf einem anderen Blatt. Die Möglichkeit hierzu muss jedem Betroffenen gegeben werden. Er entscheidet dann allein, ob er was draus macht oder nicht. 

Lassen Sie mich zum Abschluss noch sagen, dass ich kein Verfechter von zu schnellem Fahren bin. Wir wollen alle auf sicheren Straßen unterwegs sein. Der Bußgeldkatalog schreibt entsprechende Sanktionen vor. Davon beißt keine Maus einen Faden ab. Aber einer der Grundpfeiler der Demokratie, die Rechtsstaatlichkeit, verlangt, dass ich jeden Vorwurf rechtlich überprüfen lassen darf. Dazu muss mir Einblick gewährt werden in die technische Funktionsweise der Messung, aus der man den Vorwurf gegen mich hergeleitet hat. Es reicht nicht aus, dass das Gerät sonst immer einwandfrei funktioniert hat. Die Gerichte wollen auch nicht hören, dass der Mandant sonst immer mit angepasster Geschwindigkeit gefahren ist, und aus diesem Grund auch dieses mal nicht zu schnell unterwegs gewesen sein kann. 

Ich bin sehr gespannt auf die kommenden Gerichtsverfahren. 

Ihnen wünsche ich eine gute Fahrt (ohne dass unangenehme Fotos von Ihnen angefertigt werden…)! 


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